Ein Glücksgefühl, wenn Kinder über sich hinauswachsen
Irene del Carmen Santos Cruz unterrichtet in einem Vorort von Xalapa City im Bundesstaat Veracruz in Mexiko. Ihre Schülerinnen und Schüler kommen aus Familien ohne festes Einkommen. Die soziale Ungleichheit hat sich vor allem in der Pandemie bemerkbar gemacht: 14 ihrer 26 Schulkinder hatten kein Gerät zur Verfügung, um dem digitalen Unterricht zu folgen. Doch Irene del Carmen Santos Cruz tat alles dafür, damit ihre Klasse trotz schlechter Vernetzung nicht abgehängt wurde.
»Mir wurde klar, dass ich den Kindern und Jugendlichen mehr Freiheit geben muss, um eigenständig zu erkunden und zu entdecken.«
Irene del Carmen Santos Cruz, Lehrerin an der Schule Telesecundaria Adalberto Tejeda
in La Estanzuela, Mexiko
Die COVID-19-Pandemie hat die Notwendigkeit digitaler Lehr- und Lernmaterialien für den Schulunterricht sichtbar wie nie zuvor gemacht. Laut UNESCO waren alleine in Lateinamerika rund 160 Millionen Schülerinnen und Schüler von Schulschließungen betroffen. Anlässlich des akuten Handlungsbedarfs hat sich die Siemens Stiftung mit Partnerinstitutionen und Bildungsministerien in Lateinamerika zusammengeschlossen und die Initiative MINT-Bildung für Innovation ins Leben gerufen. Mit der finanziellen Unterstützung von Siemens Caring Hands e. V. ist es gelungen, innovative Bildungsformate im MINT-Unterricht in sieben Ländern zur Verfügung zu stellen. In einer Interview-Reihe berichten Pädagoginnen und Pädagogen, was sich seither in ihrem Kindergarten- oder Schulalltag verändert hat.
MINT-Bildung für Innovation
Lernen Sie die 14 Projekte der lateinamerikaweiten Bildungsinitiative für die MINT-Fächer kennen.
Irene del Carmen Santos Cruz setzte sich von Beginn an dafür ein, auch Kindern aus sozial schwachen Familien weiterhin Bildung zu ermöglichen. Sie telefonierte mit ihren Schülerinnen, Schülern und deren Eltern über das Festnetz, sie schrieb Emails, erstellte PDFs des Gelernten und tat alles dafür, damit ihre Klasse trotz schlechter Vernetzung nicht abgehängt wurde. Webinare der Siemens Stiftung und INNOVEC (Innovation en la Ensenanza de la Ciencia) im Rahmen der Bildungsinitiative MINT-Bildung für Innovation haben Irene nicht nur Hilfestellung gegeben, was Inhalte und frei verfügbare Arbeitsmaterialien auf der OER-Plattform CREA (Centro de Recursos Educativos Abiertos) angeht – es hat auch ihren Stil zu unterrichten für immer verändert.
Hintergrund
Ich unterrichte an der Schule Telesecundaria Adalbert Tejeda. Die Telesecundaria ist eine besondere Schulform, die 1968 entstand und mit Unterricht über Fernsehprogramme arbeitete, um die Kluft zwischen der ländlichen und städtischen Schulsituation zu überbrücken. Heute bedeutet dieses Bildungssystem, dass es nur noch eine Lehrkraft pro Klasse gibt, die alle Fächer unterrichtet und den ganzen Tag bei ihren Schülerinnen und Schülern ist.
Die Schule liegt in La Estanzuela, einer kleinen Gemeinde nahe der Hauptstadt Xalapa City im Bundesstaat Veracruz. Doch obwohl den Ort nur wenige Minuten von der Hauptstadt trennen, so ist der sozioökonomische Hintergrund der Familien, die dort leben, schwierig.
Meine 26 Schülerinnen und Schüler sind zwischen 13 und 14 Jahre alt, vor Corona arbeitete ich von 8 bis 14 Uhr mit ihnen. Eigentlich sollte ich sechs Fächer pro Tag unterrichten, aber das ist sehr schwer zu schaffen. Ich habe mir immer genug Zeit für jedes Thema genommen. Ich unterrichtete mit einem Lehrbuch und Videos, so funktionieren die Telesecundarias heute.
Die COVID-19-Pandemie
Ganz am Anfang, als die Pandemie begann, bat ich meine Schülerinnen und Schüler, ihre täglichen Aufgaben und Aktivitäten in Arbeitshefte einzutragen und mir diese von Montag bis Dienstag zu übergeben, um sie zu kontrollieren. Eine Person aus der Gemeinde begleitete mich, um die Hefte jede Woche einzusammeln. Keine leichte Aufgabe. Bei mir zu Hause lagerte eine große Menge an Unterlagen, die ich durchsehen musste. Aber auf diese Weise konnte ich zumindest das zweite Semester von März bis Juni 2020 abschließen.
Ich bat die Eltern, ein E-Mail-Konto anzulegen, um mit mir in Kontakt zu bleiben.
Danach bat ich die Eltern, ein E-Mail-Konto anzulegen, um mit mir in Kontakt zu bleiben. Außerdem wünschte ich mir in jeder Familie ein Mobiltelefon, um mit den Kindern und deren Familien über WhatsApp verbunden zu sein. Ich wollte ihnen so Hausaufgaben für jeden Tag senden.
Ich eröffnete einen Zoom-Account. Anfangs war ich sehr optimistisch, dass dies die perfekte Lösung sein würde, mit den Kindern weiterzuarbeiten. Ich kaufte sogar eine Tafel, die ich im Hintergrund beschriften wollte. Doch bald merkte ich, dass es einfach nicht möglich ist, auf diese Weise zu unterrichten.
Es gab ein grundsätzliches Problem: Die Familien der Schulkinder sind relativ arm, die Eltern haben keine feste Arbeit. Ich habe letztes Jahr, als Corona zuschlug, eine Umfrage durchgeführt und herausgefunden, dass nur zwei meiner Schülerinnen und Schüler einen Computer besitzen. Der Rest musste ein Handy benutzen, um am Unterricht teilzunehmen, das sie in vielen Fällen auch mit anderen Mitgliedern ihrer Familie teilen müssen.
Und selbst das war nicht die Lösung, da sie nur eine begrenzte Datenmenge zur Verfügung haben. Auch haben hier nicht alle W-LAN. So können einige von ihnen nur den Ton und nicht das Video nutzen. Das macht alles sehr schwierig. Die Pandemie hat uns die Augen geöffnet, die Ungleichheiten in unseren Gemeinden zu sehen und zu erkennen, wie groß sie eigentlich wirklich sind. Das ist eine enorme Herausforderung.
Die Pandemie hat uns die Augen geöffnet, die Ungleichheiten in unseren Gemeinden zu sehen und zu erkennen, wie groß sie wirklich sind.
Von meinen 26 Schülerinnen und Schülern haben es nur zwölf geschafft, eine Internet-Verbindung herzustellen. Bei den übrigen habe ich versucht, die Eltern über das Festnetz zu erreichen, um ihnen zu sagen, dass sie ihre Kinder ermutigen sollen, die Schularbeiten zu Hause zu machen.
Ich verstehe, wie mühsam es für die Schüler*innen ist, in einem solch angespannten wirtschaftlichen Umfeld zu lernen.
Einer meiner Schüler heißt Giovanni. Als ich mit seinen Eltern sprach, sagte die Mutter: „Frau Lehrerin, mein Mann hat letzten Monat seine Arbeit verloren, ich bin die einzige Person im Haus, die Geld verdient. Es ist schwierig für uns, alles am Laufen zu halten.“ Ich verstehe, wie mühsam es für die Schülerinnen und Schüler ist, in einem solch angespannten wirtschaftlichen Umfeld zu lernen. Trotz dieser Nachteile hat Giovanni Fortschritte gemacht. Ich habe ihn immer wieder am Telefon motiviert, bin mit ihm in Kontakt geblieben und habe ihn gebeten, selbstständig zu arbeiten. Ich bin sehr stolz, denn jetzt beendet Giovanni sein Schuljahr in einer sehr guten Verfassung.
Eine andere Schülerin, Irene, konnte sich für die Dauer des Unterrichts nicht mit uns verbinden. Ich schickte ihr also jeden Tag per E-Mail ein PDF mit dem Stoff, den wir durchgenommen hatten. Irene schrieb den kompletten Inhalt jedes PDFs in ihr Arbeitsheft. Auf diese Weise lernt sie. Sie gibt ihr Bestes, mit den geringen Möglichkeiten, die sie hat.
Die meisten meiner Schülerinnen und Schüler benutzten den Handybildschirm, um dem Unterricht zu folgen. Das Bild, das sie bekamen, war zu klein. Ich begann, Formeln und Konzepte auf Papierblättern zu demonstrieren, die ich einfach nah vor die Kamera hielt. Kleine banale Erkenntnisse, die jedoch einen großen Unterschied machen.
Herausforderungen für Lehrkräfte und hilfreiche Fortbildungen
Das Schwierigste für mich selbst war der Umgang mit der Technik. Ich kannte zwar Zoom, aber ich hatte es nie benutzt. Jetzt musste ich es nicht nur lernen, sondern auch den Eltern beibringen, wie man damit arbeitet – um ihren Kindern zu helfen, den Anschluss zu finden.
Kurz vor Corona konnte ich einen Diplomkurs über den Einsatz von Technologie in der Bildung absolvieren. Nach Beginn der Pandemie wiederholte ich den Kurs online, um meine Fähigkeiten zu erweitern.
Von Mitte April bis Mitte Juni habe ich an dem Kurs „Einführung in den MINT-Ansatz und seine Bedeutung für eine nachhaltige soziale Entwicklung“ teilgenommen, einem Webinar, das von der Siemens Stiftung und INNOVEC durchgeführt wurde. Dort habe ich zum ersten Mal von CREA erfahren. Eine sehr interessante Plattform, die eine Vielzahl von Ressourcen für den MINT-Unterricht auf einen Klick bereitstellt. Und ein sehr wichtiger Input, um den Unterricht innovativer zu gestalten. Mit den Materialien kann ich die Schülerinnen und Schüler motivieren und in den Unterricht einzubinden – auch für mich ist das eine Innovation.
Centro Recursos Educativos Abiertos
CREA versammelt eine Fülle didaktischen Materials für den MINT-Unterricht.
Ich habe meine Art des Unterrichtens überdacht.
Im Rahmen der Webinare führte uns Martín Bascopé, Leiter der Abteilung Bildung für nachhaltige Entwicklung an der Pontificia Universidad Católica (PUC) in Villarrica, Chile, in die Methode des Forschenden Lernens ein. Diese konnte man den Schülerinnen und Schülern mit verschiedenen Strategien beibringen, um ihr Lernen zu verbessern. Das hat mich enorm beeindruckt.
Ich entdeckte, dass ich einen sehr „geführten Untersuchungsansatz“ in meinem Unterricht verfolgte. Mir wurde klar, dass ich den Kindern und Jugendlichen mehr Freiheit geben muss, um eigenständig zu erkunden und zu entdecken. Ich muss offener werden und habe meine Art des Unterrichtens überdacht. In den Webinaren habe ich auch gelernt, wie ich die Experimente auf die Inhalte abstimmen kann, die ohnehin in den Lehrplänen stehen.
Projekte und zukünftiges Unterrichten
Ich nehme zurzeit in an dem Projekt „Ethnobiologische Gärten“ teil, im Rahmen einer Initiative des Instituts für Ökologie. Ziel ist es, das traditionelle Wissen der Gemeinschaft wiederzuerlangen, um Pflanzen auf unterschiedliche Weise zu nutzen, den Anbau zu verbessern und Bestäuberpflanzen zu schützen.
Ich habe meine Klasse angeleitet, einen Bestäubergarten zu erforschen, einen Ort mit Blumen, die eine Vielzahl von Bienen anziehen, die wiederum andere Pflanzen in der Umgebung bestäuben. Die Schülerinnen und Schüler recherchierten in Gruppen, welche Pflanzen am besten geeignet sind, wo man sie anpflanzt, wie viel man gießen muss, welche Tiere sie anziehen. Dann habe ich sie gebeten, ihre Ergebnisse zu präsentieren. Für ihre Recherchen nutzten sie verschiedene Tools und Plattformen – und haben mich damit sehr überrascht. Ich habe nicht erwartet, dass sie wissen, wie PowerPoint oder ähnliche Programme funktionieren.
Ich plane bereits, Materialien der CREA-Plattform einzusetzen, die ich aus den Webinaren kenne.
All dies ist Teamarbeit. Ich habe gerade erst die Ressourcen und Materialien von CREA kennengelernt und beginne nun, das Gelernte in meinem Unterricht anzuwenden. Im nächsten Schuljahr werde ich dieselben Schülerinnen und Schüler unterrichten, die ich in diesem Jahr hatte, vor allem im Fach Chemie. Ich plane bereits, Materialien der CREA-Plattform einzusetzen, die ich aus den Webinaren kenne: Inhalte, die sich auf chemische Reaktionen beziehen, wie wir sie bei der Zellatmung und dem Klimawandel vorfinden.
In Anbetracht der Tatsache, dass CREA eine so offen verfügbare Ressource ist, überlege ich, die Inhalte auch für Mathematik, Physik und Biologie zu verwenden. Es ist ein sehr nützliches Tool. Und es ist kostenlos! Ich sehe es deshalb als meine Pflicht an, all das, was ich dort lerne, umzusetzen und an meine Klasse weiterzugeben.
Ich habe meinen Schülerinnen und Schülern immer gesagt: Wenn sie in ihrem Alter in der Lage sind, Technologien zu nutzen, können sie alles tun, was sie wollen – Karriere machen, einen Bachelor- oder Master-Abschluss oder sogar einen Doktortitel erlangen. Mit Bildung steht ihnen die Welt offen.
Mit Bildung steht ihnen die Welt offen.
September 2021
MINT-Bildung für Innovation
Gemeinsam mit Partner*innen in Chile, Kolumbien, Mexiko, Argentinien, Peru, Brasilien und Ecuador adaptieren wir MINT-Lehr- und -Lerninhalte für den digitalen Einsatz im Unterricht. Siemens Caring Hands e. V. und das Auswärtige Amt unterstützen die Initiative.