»Mit MINT-Bildung gewinnen die Menschen eine Perspektive und stabilisieren die Gesellschaft.«
Gemeinsam vorwärtskommen
Die Stiftung Haus der kleinen Forscher und die Siemens Stiftung haben im November 2017 zum „International Dialogue on STEM“ nach Berlin eingeladen. Mehr als 100 Fachleute aus 28 Nationen diskutierten über Chancen und Herausforderungen von MINT-Bildung weltweit. Uchenna Udeani, Professorin für naturwissenschaftliche Bildung an der University of Lagos in Nigeria, und Hugo Flores, Leiter des Zentrums für voruniversitäre Ausbildung an der Universidad Peruana Cayetano Heredia in Peru, erklären, warum die Zukunft ihrer Länder bei Kleinkindern beginnt.
Señor Flores, zwei Tage Austausch mit Naturwissenschaftlern aus fünf Kontinenten. Was nehmen Sie an neuen Erkenntnissen mit nach Peru?
Flores: Für mich war es zunächst wichtig, zu erfahren, dass wir in Peru nicht isoliert an diesem Thema arbeiten. Menschen aus vielen Ländern haben dieselben Probleme. Es fühlt sich besser an, gemeinsam vorwärtszukommen. Ebenso wichtig für mich ist die Erkenntnis, dass die Zeit gekommen ist, unser Wissen zu teilen. Keine Geheimnisse bewahren, sondern ein weltweites naturwissenschaftliches Team bilden. Das war ein Schlüsselerlebnis, mehr noch: eine Offenbarung!
Wie hat sich dieser Erkenntnisprozess abgespielt?
Flores: Ich habe ein ganzes Notizbuch vollgeschrieben. Wichtig waren für mich die Workshops, denen kurze Vorträge zur Orientierung und Inspiration von Experten zu einzelnen Themen vorausgingen. Das fand ich sehr hilfreich. Ich werde das in Lima einführen. Es ist eine effektive Methode, die dafür sorgt, dass eine Diskussion nicht zerfasert.
Welche Workshops waren es, die Sie als besonders effektiv und beispielhaft empfanden?
Flores: Das sogenannte e-Learning fand ich spannend. Da haben wir in Peru noch große Lücken, obgleich es so wichtig ist! Das Problem in Peru ist: Wir haben nicht überall Internetzugang. Außerdem sind die meisten Lehrer älter als 50 Jahre und wissen, was das Digitale angeht, nicht mehr als die Schüler. Hinzu kommt: Es fällt ihnen schwer, aus ihrer Komfortzone herauszukommen. Sie arbeiten seit 25 Jahren auf die gleiche Art und Weise. Computer sind zudem teuer.
Frau Professor Udeani, haben Sie mit ähnlichen Problemen zu kämpfen?
Udeani: Bei uns mangelt es nicht nur am Internetzugang, wir haben auch Probleme mit der Energieversorgung, Strom gibt es nicht überall in Nigeria und wenn, ist er teuer.
Gemeinsam ist Ihnen, dass in Nigeria und Peru gut ausgebildete Lehrer für die Zukunft ihrer Länder lebenswichtig sind. Was nehmen Sie in dieser Hinsicht aus Berlin mit?
Flores: Dass wir sie nach der Ausbildung intensiv begleiten müssen. Wenn sie im Schulalltag Schwierigkeiten haben, brauchen sie Unterstützung – das können auch web-basierte Seminare sein oder ein Austausch über WhatsApp. Die Lehrer dürfen sich nicht alleine fühlen. Sie haben zwar ein gutes Fachwissen, können aber in der Regel keine Schüler motivieren. Es ist oft noch der übliche Frontalunterricht.
In welcher Sprache unterrichten die Lehrer in Peru und Nigeria?
Flores: Die Amtssprache in Peru ist Spanisch, das wird in den Schulen unterrichtet, aber daneben gibt es an die 150 Dialekte und andere Sprachen. Deshalb war ein Workshop, der unter dem Titel „MINT und Sprache“ stattfand, für mich interessant. Grunderkenntnis dabei war, dass naturwissenschaftliche Bildung die Sprachentwicklung unterstützt, vor allem im Kindergarten und in der Grundschule.
Udeani: Da kann ich noch einen draufsetzen: Wir haben in Nigeria 450 Sprachen. Allein auf dem Campus unserer Universität in Lagos sprechen die 71.000 Studenten hunderte Sprachen. Ich zum Beispiel komme aus dem Süden, meine Muttersprache ist Igbo. Aber ich unterrichte ausschließlich auf Englisch, der akademischen Sprache.
Señor Flores, Sie leiten die Pre-Universtität der privaten Uni Cayetano Heredia, der renommiertesten Institution für wissenschaftliche Forschung in Peru. Was bedeutet Pre in diesem Fall?
Flores: Ich beschäftige mich mit allem, was dem Studium vorausgeht. Unser Zentrum ist darauf spezialisiert, Schüler auf die Aufnahmeprüfung der Universität vorzubereiten. Das geht zurück bis zu den Vierjährigen.
Heißt das, dass Sie schon Vierjährige auch naturwissenschaftlich auf die Uni vorbereiten?
Flores: Genau da müssen wir ansetzen. Wir brauchen in Peru ein Volk, das kritisch denkt und wissenschaftliche Kenntnisse besitzt. Peru hat rund 5.000 Forscher. Wir benötigen aber 50.000.
Udeani: Dieser Meinung bin ich auch. Frühkindliche Bildung ist wichtig, das nehme ich aus dieser Tagung in Berlin mit. Nicht erst ab der Grundschule, sondern schon davor. Also ab zwei Jahren, wenn Kinder sprechen lernen, dann begreifen sie auch Zusammenhänge. Themen wie Hygiene sind lebenswichtig, wie Händewaschen, oder dass man keine Abfälle wegwirft und die Umwelt damit vergiftet.
Flores: Die Fähigkeiten, die die Naturwissenschaften mitgeben, sind für jeden anderen Beruf und für das ganze Leben nützlich. Schon kleine Kinder forschen gerne, diskutieren, suchen nach Lösungen.
Udeani: Unbedingt! Mit naturwissenschaftlichem Denken können wir sogar dem Terrorismus vorbeugen.
Mit Physik und Mathematik gegen Boko Haram? Das müssen Sie erklären!
Wenn Menschen schon in frühen Jahren eine Perspektive haben, stabilisiert das die Gesellschaft. Das hält sie davon ab, sich dem Fanatismus zuzuwenden. Aber Boko Haram ist nur eines unserer Probleme. Wir kämpfen in Nigeria auch mit dem Monkeypox-Virus, den sogenannten Affenpocken, mit dem Ebola-Virus, dem Lassafieber, alles lebensgefährliche Seuchen. Allein richtiges Händewaschen hilft gegen diese Probleme. Das lernen die Kinder über MINT! Sie lernen auch, wie der eigene Körper funktioniert. Und es geht immer weiter – mit Experimento lernen sie, zu diskutieren, Entscheidungen verantwortlich zu treffen. Sie lernen Demokratie.
Ähneln sich manche Probleme in den fünf Kontinenten, aus denen die Teilnehmer kamen?
Flores: Ja. Wir Latinos waren am Anfang unter uns, aber durch die Struktur der Workshops war das Eis schnell gebrochen und ich habe mich lange mit einer Teilnehmerin aus Thailand unterhalten, später mit Besuchern aus Kenia und Südafrika. Am Ende haben alle mit allen gesprochen. Ich habe mich übrigens auch das erste Mal mit den Chilenen ausgetauscht, obwohl unsere Länder Nachbarn sind. Wir haben alle die gleichen Probleme.
MINT heißt im englischen STEM, inzwischen wurde daraus STEAM und das "A" steht für Arts, für Kultur. Wie passt das für Sie?
Flores: Warum nicht? Das „A“ bedeutet für uns kulturelles Erbe. Wenn wir Pflanzen zu Farben mischen und Alpakawolle damit färben, hat das etwas mit unserer Kultur zu tun. Oder wenn wir aus einer Pflanze einen Tee, ein Arzneimittel oder eine Creme herstellen. Dann kommt die Kultur zu den Naturwissenschaften.
Udeani: Ich nehme das pragmatisch, A ist gleich Kreativität und das brauchen wir in Nigeria zum Überleben! Bei uns sitzen oft 90 Kinder mit unterschiedlichem Alter in einer Klasse. In einem Schulhaus, das kein Dach hat. Vielleicht ist es nur ein Baum, der Schatten spendet. Unter solchen Bedingungen aus der Not heraus guten Unterricht zu praktizieren, ist nicht so einfach. Dann gibt es nichts besseres, als zu experimentieren.
Zum Beispiel mit dem Bildungsprogramm Experimento?
Udeani: Ja, für uns ist das ein Segen. Die Kinder blühen auf. Sie haben in unserer Gesellschaft ja sonst nichts zu sagen, dürfen nicht fragen, nicht aufmucken, sind nicht viel wert. Im Klassenzimmer bleiben sie still und warten, was der Lehrer sagt. Experimento verändert etwas. Das ist gut.
Was nehmen Sie von der Tagung mit?
Udeani: Wir prüfen falsch an unserer Uni. Bei uns geht es in den Tests nur um auswendig Gelerntes. Ich wünsche mir, dass wir anders unterrichten. Lebendiger. So, dass die Kinder ihr Klassenzimmer als Spielplatz begreifen! Damit werde ich arbeiten, wenn ich zurück bin. Die Schüler sollen Fragen stellen dürfen. Mit Experimento sind wir jetzt seit einem Jahr an elf Schulen.
Wie ist das Feedback?
Udeani: Aufregend und ermutigend. Die Lehrer sind begeistert und wissen sich zu helfen, wenn etwas ausgeht. Neulich habe ich gesehen, wie sie einen Reflektor aus der Experimento-Kiste ersetzt haben. Sie gingen zu einem Schrotthändler und brachen das Glas aus den Scheinwerfern. Hinter der Birne ist Aluminium, das reflektiert silbern und taugt für unsere Experimente. Jetzt geht es vor allem darum, die Mädchen im Norden unseres Landes zu erreichen. Die haben bisher kaum eine Bildungschance. Da gibt es noch viel zu tun. Deshalb wünsche ich mir das Thema Gender für den nächsten Internationalen Dialog 2019.
November 2017