»Wenn man sich in Bewegung setzt, geschehen plötzlich Wunder.«
Wie Music In Africa das Musikleben verändert
Die 2013 gegründete Music In Africa Foundation mit ihrem Onlineportal musicinafrica.net ist aus dem afrikanischen Musikleben nicht mehr wegzudenken. Das Portal ist Schaltstelle eines sich selbst organisierenden Netzwerks von Musikern, Produzenten und Organisatoren aus dem ganzen Kontinent, Inspirationsquelle für unzählige lokale Initiativen und Ort der Information über Aktivitäten wie den alljährlich stattfindenden Musikkongress ACCES. Aisha Deme (Senegal), bis vor einem Jahr Vorsitzende des Management Boards von Music In Africa, und Serge Maboma (Kamerun), neu im Leitungsgremium, sprechen im Interview mit dem Musikjournalisten Max Nyffeler über die Veränderungen, die die Zusammenarbeit mit Music In Africa in ihrem professionellen Leben ausgelöst hat.
Aisha Deme, Serge Maboma, wie wirken sich aus Ihrer Sicht die Aktivitäten der Music In Africa Foundation auf das Musikleben aus?
Aisha Deme: Da sind mehrere Punkte zu unterscheiden. Da gibt es zuerst einmal die Website musicinafrica.net – eine wichtige Informationsquelle für unsere Musik. So etwas gab es früher nicht. Das Portal bietet eine riesige Menge an Informationen, etwa über die musikalische Ausbildung, die Veranstaltungsorte oder die Künstler, auch die wenig bekannten. Die Leute wissen jetzt, wo sie diese Informationen finden können, sie unterhalten und vernetzen sich gegenseitig, und laufend entstehen neue Profile. Es ist unglaublich, was sich da entwickelt hat.
Und die weiteren Punkte?
Aisha Deme: Das betrifft alles, was aus dem Portal heraus an Initiativen im realen Leben entsteht, zum Beispiel die regionalen Workshops zusammen mit professionellen Musikern, seit kurzem auch Workshops zur Herstellung und Pflege traditioneller Instrumente. Und es gibt das jährliche Treffen ACCES mit dem Networking, den Musikerauftritten und vor allem den Podiumsgesprächen zu vielen brandaktuellen Themen, die zum Nachdenken anregen und weiterführende Aktivitäten anstoßen.
Serge Maboma: Dem kann ich nur beipflichten. Auch für uns, die Musiker, ist Music In Africa ein fantastisches Instrument, weil es unglaublich viele Steine aus dem Weg räumt. Früher mussten wir wahre Kunststücke vollbringen, um an die kleinsten Informationsfetzen heranzukommen. Heute kann ein Musiker, ganz egal wo er sich befindet, mit nur einem Klick auf seinem Smartphone ganz genau erfahren, was er zum Beispiel tun muss, um auf einem Festival aufzutreten. Die große Frage lautet noch immer: „Was muss ich unternehmen, um im Musikbusiness weiterzukommen? Wie kann ich mit den Veranstaltern von Musikevents in Kontakt treten?“ Auf dem Portal findet man heute zahlreiche Aufrufe für Veranstaltungen und in jedem monatlichen Newsletter stehen so viele Informationen, dass man heute schon selbst schuld ist, wenn man nicht Bescheid weiß. Die Ausrede „ich weiß nicht, wie das funktioniert“ zieht nicht mehr. musicinafrica.net bietet Informationen für alle Orte in Afrika, ebenso über die Künstler und ihre Initiativen. Das Portal ist ein Instrument, mit dem wir uns vor Ort professionell organisieren können.
Sie beide sind seit Jahren in der Music In Africa Foundation aktiv. Wie hat sich diese Zusammenarbeit auf Sie persönlich und ihre berufliche Tätigkeit ausgewirkt?
Serge Maboma: Nun, ich sage es mal ganz direkt: Music In Africa hat mein Leben wirklich vollkommen auf den Kopf gestellt. Ich habe mich stets bemüht, dass meine Band so gut wie möglich auf der Bühne performt und wir die bestmöglichen Auftritte haben. Aber ich fühlte mich immer irgendwie gebremst und wusste nicht, wie wir in Kontakt mit anderen treten können. Als ich dann zum ersten Mal an einer Hauptversammlung von Music In Africa teilnehmen konnte, stellte ich voller Begeisterung fest, dass das, was ich bisher gedacht hatte, in Wirklichkeit gar kein Traum war, sondern dass es da draußen Menschen gab, die das praktizierten, die strukturiert zusammenfanden und arbeiteten! Und ich hatte die Ehre, in ihre Reihen aufgenommen zu werden und konnte viel lernen. Als ich dann zu meinen Kollegen zurückkam, sagte ich zu ihnen: „Jungs, wir haben zwar viel gemacht, aber das Wichtigste haben wir versäumt: so zu arbeiten, dass wir echte Profis werden können.“
Was ist für Sie ein „echter Profi“?
Serge Maboma: Das ist ein Künstler, der auch in der Lage ist, an allen administrativen Aspekten zu arbeiten, an Parametern, die wir bisher noch nicht berücksichtigt haben. Dank den Anregungen, die ich durch Music In Africa erhalten habe, habe ich realisiert, dass es in Kamerun eine Menge Möglichkeiten gibt, die Musikszene zu verändern. Uns Künstlern wurde schon in der Ausbildung immer wieder gesagt: „Lerne dein Instrument, und dann warte erst mal ab.“ Aber worauf warten? Keine Ahnung! Und plötzlich wurde mir klar: All die Menschen, denen ich früher begegnet bin – egal ob Festivalorganisatoren, Musikerkollegen oder meine jüngere Schwester Aisha – , sie alle sind im Grunde genommen Künstler, die etwas in Bewegung setzen wollen. Und so bin ich auch aktiv geworden und in die Eventorganisation gegangen. Das hat alles verändert. Mich selbst und auch meine Position gegenüber anderen Musikern. Du bist auf einmal ein Ansprechpartner, weil man den Eindruck hat, dass du dich auskennst in den Bereichen, wo es Arbeit gibt usw. Ich lerne ständig dazu, und meine Einstellung zur Arbeit hat sich verändert: Ich bekomme einen Blick dafür, was zu tun ist, was möglich ist – zu Hause und sogar in ganz Afrika. Das ist unglaublich! Vor nicht allzu langer Zeit wusste ich noch nicht mal, was ich für mein Wohnviertel tun kann!
Aisha Deme: Ich bin sehr froh, das zu hören. Das ist im Grunde genau das Ziel von Music In Africa. Das ist ein perfektes Beispiel für den Nutzen unserer Organisation. Klar auf den Punkt gebracht und wunderbar ausgedrückt.
Hat sich auch für Sie, Aisha Deme, etwas im Leben verändert, seit Sie für die Stiftung arbeiten?
Aisha Deme: Ja, in vielerlei Hinsicht. Vor allem, was die Kenntnis der afrikanischen Musik angeht. Ich komme aus dem Senegal und kenne den dortigen Kultursektor sehr gut. Aber die anderen Länder kannte ich nicht sonderlich gut, besonders das englischsprachige Afrika: Südafrika, Kenia usw. Dank Music In Africa habe ich diese ganzen Musiklandschaften besser kennen und verstehen gelernt. Die afrikanischen Kulturen unterscheiden sich stark, in Westafrika ist die Kultur anders als in Kenia. Außerdem konnte ich durch meine Tätigkeit im Vorstand von Music In Africa viel auf der administrativen, strategischen Seite lernen. Und dann gibt es noch die persönliche Seite. Die Menschen sind für mich wie eine große Familie. Wir sind zusammengewachsen, und es geht bei unseren Versammlungen nicht um Routinetreffen, wo man rasch hinreist, seine Arbeit verrichtet und wieder heimgeht. Es ist ein Gemeinschaftswerk mit sehr menschlichen Kollegen. Das berührt das Herz.
Für die Entwicklung der afrikanischen Gesellschaften ist die Rolle der Frau heute von entscheidender Bedeutung. Zeigt sich das auch in der Arbeit der Foundation?
Aisha Deme: Das ist ein sehr weites Feld und eine permanente Herausforderung! Als Frau in der Musikbranche hat man es überall, aber besonders in Afrika, sehr schwer. Das Umfeld ist sozial und beruflich gesehen sehr schwierig. Music In Africa hat sich auch vorgenommen, das Thema gründlicher anzugehen. Schon bei der ACCES-Konferenz 2017 in Dakar haben wir diese Probleme in den Panels angesprochen und ein Bewusstsein dafür geschaffen. Und haben bereits die ersten Projekte begonnen.
Auf der ACCES 2017 hat Maah Keita an einer Diskussionsrunde zum Thema Frauen in der Musikbranche teilgenommen. Sie ist die erste weibliche Bassgitarristin aus dem Senegal und in einem sehr männlich geprägten Milieu unterwegs. Wie entwickelt sie sich?
Aisha Deme: Sie schlägt sich richtig gut, aber es ist nicht einfach. Zum Glück hat sie viel Unterstützung durch ihre Familie. Das Tolle ist, dass sie jetzt ein Vorbild für andere Mädchen ist, die auch Musik machen wollen. So sollte es sein. Dafür setzen wir uns ein. Wir wollen Vorbilder für die anderen Frauen sein und ihnen Mut machen. Ich selbst bin keine Musikerin, aber ich bekomme inzwischen viel Echo von jungen Mädchen, die mir schreiben oder im persönlichen Gespräch sagen: „Du hast mich inspiriert, weil du bei Music In Africa bist; du bist im Vorstand, du bist die Vorsitzende.“ Allein das macht Lust, auf dem eingeschlagenen Weg weiter zu gehen und zu sehen, was wir alles bewegen können.
Auch bei den ACCES-Konferenzen gibt es in den Panels immer mehr Frauen.
Aisha Deme: Ja, das ist fantastisch. Auch das ist ein Kennzeichen für Music In Africa. Wir bemühen uns sehr um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Es gibt äußerst talentierte Frauen in der Branche, und ich freue mich sehr darüber, denn sie sind absolut brillant auf der Bühne. Ich bin dem Organisationsteam dankbar, dass das so gut klappte.
Serge Maboma, ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit in Kamerun liegt auf der musikalischen Ausbildung. Welche Auswirkung hat Music In Africa auf diese Arbeit?
Serge Maboma: Ich hatte schon vor Jahren und ohne viel zu überlegen mit der Nachwuchsförderung begonnen, weil wir immer viel jugendliches Publikum hatten. Aber von einem bestimmten Moment an fehlte uns einfach das nötige Wissen, um den jungen Leuten die richtigen Ratschläge zu geben. Die Teilnahme an den Meetings von Musica in Africa verschaffte mir dieses Wissen, und nun konnte ich den Jungen eine Richtung für ihre Arbeit vorgeben. Wie schon erwähnt, hatten wir früher den Fokus vor allem auf die individuelle Beherrschung des Instruments gelegt. Das war das Einzige, was zählte. Man sagte sich: „Wenn ich mein Instrument beherrsche, habe ich eines Tages mehr Chancen, eine Laufbahn einzuschlagen.“ Das stimmt natürlich. Aber was uns fehlte, war das Wissen um die organisatorischen Voraussetzungen. Manchmal geht es um scheinbar nebensächliche Details. Heute sage ich den jungen Künstlern: „Hört zu, das erste, was ihr braucht, ist ein Reisepass!“ Das hört sich jetzt banal an, aber es kam vor ein paar Jahren in Kamerun noch einer kleinen Revolution gleich, wenn man einem jungen Musiker sagte, er brauche einen Reisepass.
Kennen Sie solche Probleme mit dem Pass auch aus eigener Erfahrung?
Serge Maboma: Es gab einmal die Situation, dass Youssou N’Dour, mit dem ich zusammenarbeiten durfte, mich eines Morgens anrief und bat, ich solle für den nächsten Tag Musiker organisieren. Aber einen Reisepass zu bekommen dauert einen Monat, und wir sollten die Dokumente sofort schicken! Heute schärfe ich den jungen Leuten drei Dinge ein: „Wenn ihr keine offiziellen Dokumente habt, könnt ihr nicht arbeiten. Wenn eure Instrumente nicht tipptopp sind, könnt ihr nicht arbeiten. Wenn ihr kein Internet habt und eure Mails nicht checkt, könnt ihr nicht arbeiten.“ Erst durch die Mitarbeit bei Music In Africa wurden mir solche Dinge richtig bewusst, und seither kann ich dieses Wissen auch gezielt vermitteln. Nach jeder Music In Africa-Konferenz organisiere ich einige Treffen mit jungen Musikern und berichte ihnen, was dort gesagt wurde und mit wem ich mich dort unterhalten habe. Es sind häufig Personen, die wir nur aus dem Internet kennen. Aber wenn die Musiker hören, dass ich die Ratschläge, die ich ihnen gebe, von jenen Künstlern persönlich bekommen habe, bin ich für sie viel glaubwürdiger. Es fällt mir heute also leichter, mein Wissen weiterzugeben, und die Tatsache, dass ich jetzt auch Vorstandsmitglied bei Music In Africa bin, gibt meinen Äußerungen noch mehr Gewicht. Ich hoffe, dass ich dadurch einen echten Wandel im Musikleben bewirken kann.
Wie würde ein solcher Wandel denn aussehen?
Serge Maboma: Zum Beispiel müssen die Grenzen in Afrika für die Künstler durchlässiger werden. So dass ich ohne Schwierigkeiten nach Gabun, nach Äquatorialguinea oder in den Tschad reisen kann und dort Musiker treffen kann. Wir müssen Brücken zwischen den unterschiedlichen Kulturen in Afrika schlagen. Es geht um ein Geben und Nehmen.
Arbeiten Sie als Privatperson oder haben Sie eine Institution im Rücken?
Serge Maboma: Ich arbeite tatsächlich innerhalb einer Organisation. Sie heißt Urban Live. Wir haben die sogenannte Urban Music aus Kamerun bekannt gemacht und junge Leute entdeckt, die zu Stars in der kamerunischen Musikszene wurden. Und im Zuge meiner Erfahrungen mit Music In Africa habe ich dann die Bourdi-Gemeinschaft gegründet. „Bourdi“ ist Fulfulde, eine der Sprachen Kameruns, und bedeutet „Besen“.
Das illustriert ja wohl sehr genau Ihre Intentionen.
Serge Maboma: Richtig – der klassische Besen zum Saubermachen. So habe ich diese Musikergemeinschaft genannt. Ich habe ihnen gesagt: „Wir werden in unseren Köpfen, in den Köpfen der Gesellschaft und in unserem ganzen Umfeld aufräumen, damit die Menschen verstehen, wozu Musik da ist und was sie mitzuteilen vermag.“ Wir Musiker wollen nicht mehr untätig sein, sondern etwas bewegen. Wenn wir nichts tun, bleibt alles, wie es ist. Aber wenn wir uns rühren, dann geschieht etwas. Das habe ich selbst so erfahren. Und dann sagte ich ihnen: „Sobald man sich in Bewegung setzt, geschehen plötzlich Wunder. Also, los!“ In Kamerun habe ich eine Gemeinschaft von exzellenten Musikern, die mir folgen wollen. Wir werden neue Locations für Aufführungen in Kamerun schaffen, und, was wichtig ist: Wir wollen die Menschen vor Ort ansprechen und uns mit Taten glaubwürdig machen. Das ist nicht nur gut fürs Image, sondern letztlich auch in finanzieller Hinsicht.
Aisha Deme, verfolgen Sie im Senegal ähnliche Ziele?
Aisha Deme: Sie sind im Grunde genommen dieselben, aber mein persönlicher Fokus ist etwas breiter. Ich befasse mich nicht nur mit Musik, sondern mit der gesamten Kultur. Der Kreativsektor ganz allgemein braucht mehr Struktur und die Künstler brauchen Beratung; sie müssen sich klar werden über die Ziele und Methoden ihrer Arbeit. Das alles ist nicht leicht. Wir haben im Senegal viele junge Leute, die äußerst kreativ sind und etwas bewegen wollen, die aber zum Beispiel die Sache mit dem Reisepass noch nicht kapiert haben. Da muss sich noch vieles ändern. Das Projekt, an dem ich jetzt arbeite, ist ein Programm für Unternehmer im kulturellen Bereich. Sie kommen mit einer Projektidee und wir werden sie in der Entwicklung ihres Projekts unterstützen. Wir geben ihnen die notwendigen Tools, bilden sie aus, stellen ihnen Mentoren zur Seite. Es sind junge Leute von überall in Afrika.
Dann wünschen wir Ihnen beiden viel Erfolg mit Ihren Plänen! Danke für das Gespräch.
Dezember 2019